Harry Ristock war einst der bekannteste Linke in der Berliner SPD. Das allein macht seine Biografie aber nicht zu einem Linken Lebenslauf. Vielmehr zeugt sein lebenslanges Engagement für die Berliner/innen und ihre Stadt davon, dass er sich über alle Höhen und Tiefen seines Werdegangs hinweg der Vision einer gerechten, friedlichen und demokratischen Gesellschaft verpflichtet fühlte.
Nils Diederich, 1946-1961 Mitglied der Falken in Zehlendorf, später langjähriges SPD-Landesvorstandsmitglied und MdB
Prägend waren für den jungen Harry Ristock die Erfahrungen im Zweiten Weltkrieg, in dessen letzten Monaten er noch eingezogen wurde. Nach Kriegsende floh die Familie aus Ostpreußen nach Neulöwenberg in die Sowjetisch besetzte Zone (SBZ), die 1949 zur DDR werden sollte. Hier war es die Freundschaft zu „eine[m] alten Kommunisten und eine[m] alten Sozialdemokraten“, die Ristock nach eigener Aussage zu einem politischen Menschen machten. Er verstand sich fortan als Pazifist, als „radikaler Sozialist“ und als „Marxist luxemburgischer Prägung“ (1). 1948 ging er nach Berlin (West) und hielt hier eine linke, marxistische Traditionslinie in der SPD lebendig, die drohte, zu einer Randerscheinung zu werden – nach dem Godesberger Programm 1959 und dem neuen Selbstverständnis einer Volkspartei sowie in der Abwehrhaltung zum stalinistischen Osten.
Seinen Anspruch, diese Tradition innerhalb der SPD zu bewahren, verteidigte er hartnäckig. Nur „mit Bauchschmerzen“ war er 1950 Mitglied geworden (2), mehrfach wurden Ausschlussverfahren gegen ihn angestrengt, wovon eines 1968 kurze Zeit Erfolg hatte. Trotzdem hat Ristock nie daran gezweifelt, dass die SPD seine politische Heimat ist. Vereint hatte alle Sozialdemokrat/innen die große Utopie einer gerechten und freien Gesellschaft und damit die Abwehr der stalinistischen Diktatur in der DDR.
In Ristocks Lesart dieser Utopie nahm zudem das Moment der Aussöhnung eine wichtige Rolle ein. Als Landesvorsitzender der Sozialistischen Jugend – Die Falken rief er die Gedenkstättenfahrten ins Leben, die zahlreiche Sozialdemokrat/innen bis zum Ende der Ost-West-Teilung Europas immer wieder nach Auschwitz, Theresienstadt oder Buchenwald unternahmen.
Heinz „Micky“ Beinert, 1965-1972 Bildungssekretär und kurzzeitig Vorsitzender der Falken in Berlin & Detlef Borrmann, Mitglied der SPD Charlottenburg seit 1959 und Teilnehmer der Gedenkstättenfahrten
So stark er sich um Aussöhnung mit den osteuropäischen Nachbarn bemühte, so kämpferisch gab sich Harry Ristock in den Auseinandersetzungen in der eigenen Partei. Er befand sich nicht selten in einer Minderheitenposition, etwa mit der Forderung nach Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze. Diese Position hat er nie gefürchtet. Um für seine Überzeugungen einzutreten, benötigte er keine Mehrheiten, sondern stellte sich mit seinen geschliffen formulierten Argumenten der Diskussion. In seiner Zeit bei den Berliner Falken war Ristock ein streitbarer Mensch, der Auseinandersetzungen im innerparteilichen „Flügelstreit“ nicht scheute. Vielmehr hielt er „die Gruppenbildung für ein Lebenselixier“ (3). Seine Teilnahme an der großen Studentendemonstration gegen den Vietnamkrieg am 17. Februar 1968, öffentlichkeitswirksam drapiert mit einem Plakat „Ich protestiere gegen den Krieg der Amerikaner in Vietnam. Ich bin SPD-Mitglied!“, kostete ihn und den Kreuzberger Stadtrat Erwin Beck den kurzzeitigen Parteiausschluss.
Harry Ristock im Radiointerview zu seinem Parteiausschluss am 14. März 1968
Die innerparteilichen Streitigkeiten drohten die Berliner SPD zu zerreißen. Die schmerzhaften Erfahrungen aus dem Jahr 1968, die in zahllosen Parteiausschlüssen und einer innerlich verfeindeten SPD kulminierten, hatten ein Umdenken bei allen Beteiligten zur Folge. Harry Ristock etwa schuf mit Klaus Schütz das innerparteiliche Bündnis, das sie „Konzentration der Kräfte“ nannten und das den Parteiflügeln eine neue Zusammenarbeit ermöglichen sollte. So entwickelte der angriffslustige Ristock eine Besonnenheit und Kompromissbereitschaft, die ihn in den 1970er und 1980er Jahren die Funktionen als Senatsdirektor (das heutige Amt des Staatssekretär), Bausenator und langjähriges Mitglied im Bonner Parteivorstand ermöglichten. 1983 wählte ihn die Berliner SPD zu ihrem Spitzenkandidaten.
Norbert Meisner, 1982-1989 stellvertretender Landesvorsitzender der SPD Berlin
Der „Macher“ Ristock wusste die Gestaltungsmöglichkeiten der bestehenden Strukturen zu nutzen – die in der 100 Jahre alten SPD zwar fest etabliert, die vom Prozess der Öffnung und der Modernisierung rund um 1968 aber nicht unberührt geblieben waren. Seine politische Karriere wäre in der SPD der 1950er und 1960er Jahre noch nicht denkbar gewesen. So stellen die späten 1960er Jahre und der Übergang zum nächsten Jahrzehnt in Ristocks Linkem Lebenslauf den wichtigsten Kulminations- und Wendepunkt dar.
1 alle Zitate aus Harry Ristock: Neben dem roten Teppich, Berlin 1991, S. 11, 13 und 178
2 ebenda S. 20
3 Harry Ristock. Erinnerungen von Weggefährten, Schriftenreihe des Franz-Neumann-Archiv e.V., Berlin 1993, S. 68
Harry Ristock: Neben dem roten Teppich. Begegnungen, Erfahrungen und Visionen eines Politikers, Berlin 1991.
Siegfried Heimann, Manfred Rexin (Hg.): Harry Ristock. Erinnerungen von Weggefährten, Schriftenreihe des Franz-Neumann-Archiv e.V., Berlin 1993.
1. undatiert (ABI-Archiv)
2. als Falke mt Horst Koffke (li.) (ABI-Archiv)
3. als Volksbildungsstadtrat (ABI-Archiv)
4. bei der Anti-Vietnamkriegs-Demonstration 17.02.1968 (H. Ristock: Neben dem roten Teppich)
5. Pflanzaktion als Bausenator (ABI-Archiv)