Als Ella Kay geboren wurde, war der Berliner Vorort Reinickendorf, wo sie aufwuchs, noch bäuerlich geprägt und die große Stadt für das Arbeiterkind aus ärmlichen Verhältnissen nur in Schulausflügen erreichbar. Ihr Vater und ihr Schwager waren aktive Sozialdemokraten, was Ella Kay zu einer „in der Wolle gefärbten“ Linken machte. Schon früh beteiligte sie sich an den politischen Diskussionen zu Hause. Eigene Erfahrungen, wie die schwere körperliche Arbeit, die ihr Vater bis ins hohe Alter verrichten musste und die der Familie trotzdem kein ausreichendes Einkommen einbrachte, sorgten für ihre frühe Politisierung und ein ausgeprägtes Unrechtsbewusstsein.
Ella Kay im Interview mit Manfred Rexin
Durch die notwendige Mithilfe im Haushalt entwickelte die junge Ella Kay eine große Disziplin, über die ihre späteren Mitarbeiter immer wieder berichten. Ihre Ausbildung als kaufmännische Angestellte musste Ella Kay bei Kriegsausbruch abbrechen und stattdessen bis zu zwölf Stunden am Tag in einer Weddinger Konfektionsfabrik als Plätterin arbeiten. Wie selbstverständlich führte ihr Weg 1917 in die Gewerkschaft und 1918 zur SPD, in der sie begeistert die Novemberrevolution miterlebte. Die politischen Auseinandersetzungen der Zeit zwischen SPD und USPD, die Ella Kay die „Usepeter“ nannte, empfand sie als äußerst bedrückend – und als einen Vorläufer für den Flügelstreit, den die Berliner SPD in den 1950er und 1960er Jahren austrug.
Nach einer weiteren Ausbildung zur Fürsorgerin wurde sie 1925 Leiterin des Jugendamtes von Prenzlauer Berg. 1933 war sie eine der ersten Mitarbeiter/innen, die von den Nazis entlassen und des Hauses verwiesen wurde. Den Zweiten Weltkrieg überstand sie mit Gelegenheitsarbeiten und mit dem Zusammenhalt der im Widertand aktiven politischen Freunde.
Dietrich Masteit, persönlicher Referent der Jugendsenatorin Ella Kay
Die Kämpfe waren in Berlin noch nicht ganz eingestellt, da machte sich Ella Kay im Mai 1945 von ihrem Refugium in Müggelheim auf den Weg in den Prenzlauer Berg, wo der schon zu Kriegszeiten verabredete Wiederaufbau sofort beginnen sollte. Elf Stunden Fußweg absolvierte sie nicht nur für das erste Treffen, sondern fortan einmal die Woche, als sie ihre Funktion im Jugendamt wieder aufnahm. Erschöpft vom Krieg, aber mit der ihr eigenen großen Energie wollte Ella Kay endlich eine gerechte, demokratische Welt mit aufbauen - „wieder alles zum Wohle der Arbeiter und zum Wohle der Menschen“, wie sie selbst es beschrieb. Dabei setzte sie große Hoffnungen in die russischen Befreier und den gemeinsamen Aufbau einer Verwaltung.
Ella Kay im Interview mit Manfred Rexin
Auch parteipolitisch mussten Konflikte ausgetragen werden. Die Zwangsvereinigung und die Machtansprüche der SED machten eine gemeinsame Vertretung der Arbeiterschaft unmöglich. Ella Kay gehörte in der Berliner SPD zu den Anhänger/innen Franz Neumanns, der zum Symbol der Selbstbehauptung der Partei in ganz Berlin wurde und als Parteivorsitzender später, 1958 nach einem langwierigen und aufreibenden Machtkampf Willy Brandt unterlag.
1947 konnten Sozialdemokrat/innen in Ost-Berlin noch am Wiederaufbau mitwirken. Ella Kay wurde in Prenzlauer Berg Bezirksbürgermeisterin und damit die erste Frau, die dieses Amt in Berlin übernahm. Es war bitter für sie, als sie 1947 wieder – diesmal von den russischen Besatzern – ihres Amtes enthoben wurde und erneut Hausverbot erhielt. Sie ließ sich nicht entmutigen und suchte sich neue Aufgaben – immer in dem Selbstverständnis als Sozialdemokratin, sich für Schwächere einzusetzen. Sich selbst hat sie dabei nie geschont. Sie lebte in der Tat nicht von der, sondern für die Arbeiterbewegung.
Ella Kay im Interview mit Manfred Rexin
Dietrich Masteit, persönlicher Referent der Jugendsenatorin Ella Kay
Ernst Reuter übertrug Ella Kay zunächst das Hauptjugendamt und 1955 die neu gegründete Senatsverwaltung für Jugend und Sport. Diese hat sie geprägt wie keine Zweite. Noch aus den Zeiten der Weimarer Republik stammte ihre Leitlinie in der Jugendarbeit, die sie selbst so formulierte: „Man soll der Jugend mit der Fürsorge vom Hals bleiben – die braucht eine Erziehung, und keine Fürsorge.“ Ella Kay stellte sich immer auf die Seite der Schützlinge, was ihre Mitarbeiter durchaus als Einmischung empfanden. „Persönlich liebenswürdig, aber von unerbittlicher Geduld in der Sache, höchst ungeduldig in Bezug auf Verfahren“(1), so beschreibt Ursula Beul die Senatorin Ella Kay, die entsprechend hohe Ansprüche auch an ihre Mitarbeiter stellte.
Nur so konnte aber ein erstaunliches Lebenswerk entstehen, von dem die Berliner Gesellschaft heute noch profitiert. Ella Kay sorgte für eine moderne und individuelle Jugendpflege, für eine gute Qualifikation von Jugendpfleger/innen und Heimerzieher/innen, für die Förderung von Selbständigkeit, freier Entfaltung und Demokratieerziehung. Auch die Suche von Pflegefamilien für Waisenkinder geht auf ihre Initiative zurück. Als im „Pflegenest“ einer solchen Familie zwei Kinder starben, trat Ella Kay als Senatorin zurück. Es gehörte zum Selbstverständnis dieser charakterstarken Frau, die volle Verantwortung für das zu übernehmen, was passierte – in ihrem „Amt, bei dem Kinder Recht kriegen“ sollten.
1 Ilse-Reichel Koß, Ursula Beul (Hg.): Ella Kay und das Jugendamt neuer Prägung, Weinheim/München 1991, S. 16
Ilse-Reichel Koß, Ursula Beul (Hg.): Ella Kay und das Jugendamt neuer Prägung. Ein Amt, wo Kinder Recht bekommen, Weinheim/München 1991.
1. undatiert (Mitte Museum)
2. mit Harry Ristock (li.) und Willy Kressmann (re.) (ABI-Archiv)
3. mit Franz Neumann (li.), Edith Krappe (m. li.) und Alfred Gleitze (re.) in der Ehrenbürger-Galerie im Abgeordnetenhaus 1973 (Privatarchiv Anke Reuther)
4. handschriftliche Grußkarte 1975 (Privatarchiv Anke Reuther)