Gisela Mießner hat zwei Diktaturen erlebt und unter ihnen gelitten. Diese Erfahrungen haben ihr Leben geprägt. „Niemand“ aber, so heißt es in ihrer Todesanzeige, „hat es vermocht, sie zu brechen.“ Zusammenhalt und Solidarität haben ihr Kraft gegeben. Diese Werte hat sie in ihrer Familie er- und gelebt und an ihre unmittelbare Umgebung und in die Gesellschaft weitergegeben. Ihr Vater Joseph Mannheim war ein jüdischer Getreidehändler und nach ihrer Aussage „deutschnational bis auf die Knochen“. Für seine Teilnahme am Ersten Weltkrieg noch ausgezeichnet, mussten er und seine Familie im heimatlichen Schivelbein (Pommern) ab 1933 plötzlich Ausgrenzung erleben. Gisela wurde in der Schule auf die „Judenbank“ gesetzt und musste um das Leben des Vaters bangen; die Familie ging 1939 schließlich nach Berlin. Joseph Mannheim blieb durch die Ehe mit der Evangelin Erna von Deportationen verschont. Er musste aber, wie Gisela auch, Zwangsarbeit leisten. In diesen Jahren fand sie Kontakt zu jungen Kommunist/innen, die abgetauchten Juden halfen und die sie an ihre politischen Ideen heranführten. Eine nachhaltig beeindruckende Erfahrung von Solidarität machte Gisela Mannheim in der Rosenstraße, wo sie sich 1943 mit Mutter und Schwester dem Protest gegen die Verhaftung der jüdischen Männer anschlossen, bis auch ihr Vater schließlich entlassen wurde. Die letzten Kriegstage waren für die Familie besonders dramatisch, da sie sich kaum noch in ihrer Wohnung aufzuhalten wagten. Aber auch die Bunker, in denen sie sich aufhielten, wurden von der SS nach Juden durchsucht und Joseph Mannheim wurde durch ihre Kugeln schwer verletzt.
Siegfried Heimann, Vorsitzender der Historischen Kommission beim Landesvorstand der SPD Berlin & Christian Kind (SPD Lichtenberg), lernte Gisela Mießner kurz vor ihrem Tod kennen
Joseph Mannheim erlag am 13. Mai 1945 seiner Schussverletzung. Von 28 Familienmitgliedern hatten nur sieben den Judenmord und Krieg der Nationalsozialisten überlebt. Gisela Mannheim sah mit Kriegsende die Möglichkeit gekommen, endlich eine freie und gerechte Gesellschaft aufbauen und daran aktiv mitarbeiten zu können. Die Rote Armee und die Kommunisten hatten als Befreier ihre Sympathien gehabt. Die Vergewaltigungen der russischen Soldaten aber ließen sie sich von der KPD abwenden. „Als ich dann [19]45 gesehen habe, wie sich alle Leute dieser Couleur in die Posten gedrängt haben und alles andere beiseite und daß die Sozialdemokraten plötzlich der letzte Husten waren (…), so bin ich in die SPD gekommen“, berichtete sie später.(1) Am 1. September 1945 trat sie in Lichtenberg in die SPD ein. Hier lernte sie Herbert Mießner kennen, den sie 1948 heiratete. Die sozialdemokratischen Werte sollten dem Ehepaar Mießner eine politische Arbeit in Freiheit und nicht unter ideologischen Vorgaben ermöglichen. Zwang und Bedrängung mussten sie aber erfahren, wenn russische Offiziere die Parteiarbeit überwachten. KPD-Funktionäre suchten Gisela Mießner sogar am Arbeitsplatz auf und versuchten, sie einzuschüchtern. Das blieb nicht ohne Wirkung. Standhaft gegenüber Anwerbeversuchen zu bleiben, hieß für Gisela Mießner auch, Ängste zu überwinden und sich der Unterstützung von Mitstreiter/innen zu versichern. Angekündigten Besuchen sah sie mit Sorge entgegen, ob sie die richtigen Argumente finden würde. Oft besprach sie sich vorher mit Joachim Lipschitz, dem späteren Innensenator in West-Berlin. Nicht wenige Sozialdemokrat/innen sahen nach dem Ende des Nationalsozialismus in dem Zusammenschluss mit der KPD die Chance, die Spaltung der Arbeiterbewegung nun endlich überwinden und eine gemeinsame starke Partei bilden zu können. Gisela Mießner aber konnte sich dem nicht anschließen. Nach ihren Erfahrungen ging die KPD undemokratisch mit Zwang und Druck gegen politische Konkurrenten vor und versuchte die Gleichschaltung der öffentlichen Meinung.
Siegfried Heimann, Vorsitzender der Historischen Kommission beim Landesvorstand der SPD Berlin & Christian Kind (SPD Lichtenberg), lernte Gisela Mießner kurz vor ihrem Tod kennen
Gisela Mießner war mutig genug, Widerstand gegen die SED-Gründung zu leisten. Erst 21 Jahre alt, wollte sie ein Wahllokal betreuen in der Urabstimmung unter den SPD-Mitgliedern, in der es um Zustimmung oder Ablehnung des Zusammenschlusses mit der KPD ging. Kurz vor der Öffnung wurde das Wahllokal aber von der Volkspolizei geräumt und die Abstimmung in Lichtenberg wie im gesamten Sowjetsektor verhindert. Die Bedingungen für die Arbeit der SPD in Lichtenberg wurden nicht besser. Die SED übernahm schrittweise alle Verwaltungsämter, zunehmende Repression und Beobachtung erlaubten häufig nur konspiratives Arbeiten. Legendär war der leuchtende blaue SPD-Schriftzug im Fenster des Kreisbüros in der Gudrunstraße 10. Dort führte alljährlich der von der SED angeführte Demonstrationszug zum Sozialistenfriedhof in Friedrichsfelde zu Ehren Rosa Luxemburgs, Karl Liebknechts und auch Lenins vorbei.
Gisela Mießner 2006 bei der Veranstaltung „Hauptfeind Sozialdemokratie – 60 Jahre Zwangsvereinigung und ihre Folgen“ der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur
Gisela Mießner hatte wegen ihres politischen Engagements 1948 ihre Arbeitsstelle bei der Konsum-Genossenschaft verloren. Am 9. Mai 1953 wurde ihr Mann Herbert, inzwischen Kreisgeschäftsführer der SPD Weißensee, auf der Straße vom Fahrrad gezerrt und „mit drei Funkwagen und zwölf Vopos weggefangen“.(2) Die Vernehmung durch Vertreter der Staatssicherheit hat ihn „das Augenlicht beinahe gekostet, die Zähne, eine Niere“.(3) Weil er SPD-Zeitungen aus West-Berlin in den Ostsektor transportiert hatte, wurde er wegen „friedensgefährdender faschistischer Propaganda“ und „Verbreitung von Hetzschriften“ zu drei Jahren Zuchthaus verurteilt. Ein Jahr lang durfte Gisela Mießner ihren Mann nicht besuchen. Zudem wurden ihr die finanziellen Zuwendungen als Verfolgte des Naziregimes gestrichen und die weitere Arbeit in der Stadtverwaltung unmöglich. Sie fand eine neue Anstellung im Westteil der Stadt, und als Herbert Mießner 1956 entlassen wurde, zog das Ehepaar mit seiner Tochter Brigitte nach Berlin-Wedding. Dort galt ihr ganzes Engagement der Arbeiterwohlfahrt (AWO). Mit ihrem unermüdlichen Einsatz wollte sie allen Mitmenschen ihren gerechten Anteil am Wohlstand zukommen lassen. Darin äußert sich ein Verständnis von Politik und gesellschaftlicher Mitwirkung, das sich fern von Bürokratie und Postengeschacher bewegt, sondern konkrete Aufbauarbeit und Hilfe für andere Menschen meint. Das machte ihr Leben für die Arbeiterbewegung aus. Dieser Antrieb und persönliche Einsatz blieb Gisela Mießner bis zu ihrem Tod erhalten.
Christian Kind (SPD Lichtenberg), lernte Gisela Mießner kurz vor ihrem Tod kennen
Für ihr Engagement wurde Gisela Mießner vielfach geehrt, nicht zuletzt mit dem Verdienstorden des Landes Berlin sowie dem Bundesverdienstkreuz am Bande. Ihre Zivilcourage galt immer der Pflege der Demokratie, die sie tatkräftig in alltäglicher Arbeit mit aufgebaut hatte und die auch heute nicht immun ist gegen totalitäre Tendenzen. Bis an ihr Lebensende mahnte Gisela Mießner als Zeitzeugin, die Zeiten des Zwangs nicht zu vergessen und unsere freie und demokratische Gesellschaft nicht als selbstverständlich zu nehmen.
1 Gespräch mit Richter Götz Berger am 25.04.1992, Abschrift FNA, S. 6.
2 ebenda, S. 4
3 ebenda, S. 12
1. Foto aus dem VDN-Ausweis 1946 (Landesarchiv Berlin, C Rep 118-01, Nr. 33762)
2. Herbert Mießner (li.) kommt am 07. Mai 1956 aus dem Zuchthaus frei, mit Blumen gratuliert Rudi Müller, SPD-Kreisvorsitzender Lichtenberg (Gedenkstätte Deutscher Widerstand)
3. Verleihung des Bundesverdienstkreuzes am Bande durch Bundespräsident Johannes Rau 2011 (Gedenkstätte Deutscher Widerstand)
4. Porträt 2006 (Horst Uebelgünn, SPD Lichtenberg)