Ingrid Stahmer

Ingrid Stahmer

tabellarischer Lebenslauf

Schon als Klassensprecherin hat Ingrid Stahmer die Form von Demokratie umgesetzt, die sie aus dem Elternhaus wie selbstverständlich kannte. Diskurs, Austausch von Argumenten und fairer Streit prägten die häuslichen Umgangsformen. Zudem hatte sie - so ihre eigene Wertung - das Glück, eine Schule zu besuchen, die sich nach dem Zusammenbruch des Nationalsozialismus bewusst reformiert hatte und ihren Schülern ausdrücklich demokratische Werte vermittelte. Hier lernte Ingrid Stahmer sich einzumischen und sich nicht nur für die eigenen, sondern besonders auch für die Rechte ihrer Mitschüler/innen einzusetzen.
Ihr weiteres gesellschaftliches Engagement war nur folgerichtig. Gleich nach dem Abitur, als sie in Bremen Sozialarbeit studierte, trat Ingrid Stahmer gemeinsam mit ihrem späteren Ehemann in die SPD ein.

Ingrid Stahmer, trat 1964 in die SPD ein

Der Versuch, Dinge zu ändern, betraf zunächst überkommene Parteistrukturen. Die verbindende Utopie, die Ideen der Sozialdemokratie von Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität, standen nicht in Frage – wohl aber die Methoden und Rollenzuteilungen. Das Ehepaar Stahmer lebte ab 1965 in Berlin-Charlottenburg. Sie und mit ihnen viele andere junge Mitglieder nahmen die männerdominierte und von Flügelkämpfen zerrissene Berliner SPD als „Betonpartei“ wahr. Demokratischer sollte es zugehen in der Sozialdemokratie und damit in der Berliner Gesellschaft. Mit viel Elan und vom Aufbruch der Außerparlamentarischen Opposition (APO) beflügelt, erstritt sich die junge Generation der 1960er Jahre ihre Mitsprache auch in der SPD.
Das hat viel Kraft gekostet, die Ingrid Stahmer mit mehr Distanz zur Parteiarbeit und mit einer Ausbildung neu sammeln wollte. Ihre biografischen Eckdaten – von der Klassensprecherin zur Senatorin – könnten den Eindruck einer klassischen, fast vorgezeichneten politischen Karriere vermitteln. Tatsächlich aber legte Ingrid Stahmer auch Wert auf die Verwirklichung ihrer beruflichen Ideen zur sozialen Politik und wusste Abstand zu gewinnen, wenn die innerparteiliche Atmosphäre wenig konstruktiv war. Anstatt halbherzig mitzulaufen, entschied sie sich immer dann für die aktive Mitarbeit und damit auch für die Übernahme von Ämtern, wenn sie sich dem auch mit vollem Einsatz widmen konnte.
So übernahm sie 1981 in Charlottenburg das Amt der Stadträtin für Sozialwesen und der stellvertretenden Bezirksbürgermeisterin. Diese übte sie so lange aus, bis die spannendste Zeit ihrer politischen Biografie einsetzte. Im April 1989 wurde sie im Senat von Walter Momper Berlins Bürgermeisterin und Senatorin für Gesundheit und Soziales. Es war die erste rot-grüne Koalition Berlins, in der eine Mehrheit von acht Frauen mit sechs Männern die Regierung bildete.

Ingrid Stahmer, 1989-1991 Bürgermeisterin Berlins und Sozialsenatorin


Ingrid Stahmer, 1989-1991 Bürgermeisterin Berlins und und Sozialsenatorin

Das unerwartete Zusammenkommen der Berliner/innen am 9. November 1989 und der demokratische Aufbruch in der DDR lenkten die Berliner Geschichte in eine neue Richtung. Ingrid Stahmer kann aus ihrer Zeit als Stadträtin bestätigen, dass sich Verwaltung und Bewohner/innen West-Berlins in den 1980er Jahren mit der Teilung wohl oder übel arrangiert hatten. Ebenso hatte in Ost-Berlin und in der DDR eine separate Entwicklung stattgefunden, die man respektieren wollte. Angesichts dessen wurde die Frage der deutschen Einheit und der Wiedervereinigung Berlins kontrovers diskutiert.

Ingrid Stahmer, 1989-1991 Bürgermeisterin Berlins und und Sozialsenatorin

Für ein behutsames Zueinanderfinden ließ der Beschluss zur baldigen deutschen Einheit kaum Zeit. Während für die Menschen auf den jeweiligen Gebieten der Bundesrepublik und der DDR die Einheit mitunter viel abstrakter war, hatten die Berliner/innen und ihre politischen Vertreter/innen klare Vorteile. Die räumliche Nähe und das Leben in einem Stadtgebiet brachten die Menschen zwangsläufig zueinander und erforderten ein gemeinsames Handeln.

Ingrid Stahmer, 1989-1991 Bürgermeisterin Berlins und und Sozialsenatorin

Ingrid Stahmer hat als Bürgermeisterin von Berlin und als Senatorin für Gesundheit, Soziales, Jugend und später auch Schule und Sport noch lange weiter daran mitgearbeitet, dass aus beiden wieder ein wirklich gemeinsames Volk wurde. Ihre Grundidee von gesellschaftlichem Zusammenleben und Austausch durch fairen Diskurs hat sie ihr politisches Leben lang geleitet und steht weiterhin im Zentrum ihrer Arbeit als Coach und Hochschullehrerin in Fragen der Gruppen- und Organisationsdynamik.

 

Fotos:

1. undatiert (ABI-Archiv)
2. in Aktion als Stadträtin (Paul Glaser, ABI-Archiv)
3. beim Parteitag der SPD Brandenburg, undatiert (Paul Glaser, ABI-Archiv)
4. am Spreebogen, undatiert (Paul Glaser, ABI-Archiv)

Die Frage der Wiedervereinigung
1989: Der rot-grüne Senat / "Das Feminat"
Teilung und Alltag
Migrationspolitik in Berlin
1968: Höhepunkt der Flügelkämpfe
Mauerbau
1958: Der Wechsel an der Spitze von Franz Neumann zu Willy Brandt
Die Falken
1945-1961: Die SPD in Ostberlin
1946: "Zwangsvereinigung" und Urabstimmung
1945: Wiedergründung der SPD