Die Flügelbildungen in der Berliner SPD, die das Erscheinungsbild der Partei lange prägten und heute noch, wenn auch in abgeschwächter Form, bestehen, hatten ihre kämpferischste Ausprägung, nicht aber ihren Ursprung in den 1960er Jahren. Ein Spektrum von Gruppen mit eher traditioneller oder erneruerungsorientierter Ausrichtung gehören zum Parteikonstrukt selbstverständlich dazu. Für die Berliner Sozialdemokratie der Nachkriegszeit wurde es aber in gewissen Phasen zur Zerreißprobe. Die sich über Jahrzehnte gefestigte Zuordnung zu bestimmten Parteiflügeln zeigt noch heute, dass die Kennzeichnung „links“ und „rechts“ oftmals abseits von inhaltlichen Fragen getroffen wurden und eher innerparteiliche Netzwerke zu Beförderung von individuellen Karrieren waren.
Nils Diederich, Professor a.D. für Soziologie an der FU Berlin, langjähriges Landesvorstandsmitglied und Mitglied der SPD-Bundestagsfraktion
Dabei war die Positionierung in den Jahren des Wiederaufbaus und der Behauptung gegen SED-Diktatur noch eine hochpolitische. In der Abwehr der Zwangsvereinigung herrschte Einigkeit. In der Frage der engen Anbindung West-Berlins an die Bonner Republik, von der finanzielle Hilfe kam, gingen die Meinungen auseinander. Der Parteivorsitzende Franz Neumann wollte Errungenschaften wie die einheitliche Versicherung und die Schulreform nicht der engen Bindung an die Bundesrepublik opfern und betrieb eine traditionswahrende Politik. Dennoch sammelte sich um ihn der linke Flügel der Berliner SPD, vor allem, als ihm Willy Brandt den Posten den Landesvorsitzenden streitig machte und sich 1958 erfolgreich durchsetzte. Dessen Vertrauter Klaus Schütz half, mit neuen Methoden der Mitgliederbindung und Stimmgewinnung an der Basis dem rechten Parteiflügel ein geschärftes Profil und eine neue, dauerhafte Mehrheit zu verschaffen.
Nils Diederich, Professor a.D. für Soziologie an der FU Berlin, langjähriges Landesvorstandsmitglied und Mitglied der SPD-Bundestagsfraktion
Diese Mehrheit in Landesvorstand und wichtigen Gremien zu verteidigen, wurde in den 1960er Jahren zum Selbstzweck. Junge Generationen kamen in die SPD und stellten eingespielte und verknöcherte Strukturen in Frage. Zudem trugen sie die Themen der außerparlamentarischen Opposition (APO) in die Partei. Das Endes des Vietnamkrieges wurde gefordert, was die Parteiführung als Affront gegen die USA als wichtigsten Verbündeten verstand. Ihr standhafter Antikommunismus wurde in Frage gestellt durch Brandts beginnende Dialogpolitik oder Diskussionen um die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze.
Ingrid Stahmer, kam 1965 zur SPD Charlottenburg
So wie der Regierende Bürgermeister Klaus Schütz keinen Draht zu den Studenten der Stadt fand, so war der Landesvorstand mit der innerparteilichen Opposition überfordert. Er reagierte panisch, schloss Mitglieder in großer Zahl und im Schnellverfahren aus. Das betraf nicht nur aufmüpfige junge Linke, oft Funktionäre der Falken, sondern machte auch vor dem langjährigen und verdienten Sozialdemokraten Erwin Beck nicht Halt. Sein zeitweiliger Ausschluss gemeinsam mit Harry Ristock war 1968 der Höhepunkt der er- und verbitterten Flügelkämpfe, die bereits Züge von Selbstzerfleischung aufwiesen, hochemotional und mit persönlichen Kränkungen geführt wurden und der Wählerschaft nicht mehr zu vermitteln waren.
Kurt Mattick im Radiointerview zu den Parteiausschlüssen 1968
Erst der Bundesparteitag 1968 in Nürnberg setzte den Schnellausschlüssen mit einer Statutenänderung ein Ende. Harry Ristock – nun wieder Parteimitglied – war es dann, der den Ausweg aus der Situation suchte. Gemeinsam mit Klaus Schütz versuchte er in der „Konzentration der Kräfte“, zwischen rechtem und linkem Parteiflügel zu vermitteln und eine gleichberechtigte Vertretung in den Führungsgremien zu sichern.